Dem Leben eine Wende geben, vom Tod zum Leben umkehren - hierzu laden Labyrinthe ein. Zielgerichtet handeln heißt oft, Umwege zu machen, weite Wege in Kauf zu nehmen.
Nicht immer ist die Mitte deutlich im Blick, auch wenn sie vielleicht ganz nah liegt. Nicht müde werden, den Spuren des Lebens folgen Schritt für Schritt und geführt von der Hoffnung, dass sich Christus als Mitte des Lebens offenbart. Labyrinthe sind kreative Lebensorte, die zur Meditation einladen. Sie sprechen alle Sinne an und lassen den Glauben an die Auferstehung vom Kopf durch den Körper wandern.
Das Labyrinth in Helfta ist als Ort des Lebens und Glaubens konzipiert. Frauenklöster waren im Mittelalter Lebensorte, die sich um Gesundheit an Leib und Seele kümmerten. Die Nonnen versorgten die Menschen der Umgebung mit Heilkräutern und wussten auch, welches Kraut wofür gewachsen ist. Diese Tradition wird in Helfta mit der christlichen Labyrinth-Tradition verknüpft, denn das Lebendige Labyrinth besteht aus Heil- und Heckenpflanzen. Figuren aus Weidengeflecht laden die Besucherinnen und Besucher ein, die frischen Weidentriebe in die Formen hineinzuflechten und so zum Wachstum des Labyrinthes beizutragen.
Mechthild von Magdeburg hat zu Heilkräutern einen besonderen Spruch:
„Man soll mit den Heilkräutern die Kranken laben, die Gesunden stärken, die Toten erwecken und die Guten heiligen.“ (Mechthild von Magdeburg, FLG VII, 36)
Mit seiner Herzform und in der Gestaltung der Mitte erinnert das Lebendige Labyrinth an das Erbarmen Gottes. Zum einen spielt das Herz als Symbol der Liebe, der Innigkeit und Zuneigung in der Mystik eine wichtige Rolle. Die Gesamtgestalt der Heilpflanzen und des Weidengeflechts, der Wege mit ihren Wendungen bildet ein solches Herz. Zum anderen besteht die Mitte des Labyrinthes aus einem Weidenraum mit Rundbank, die etwa zehn Menschen zu Meditation und Gespräch Platz bietet. Hier kann das Erbarmen Gottes Raum finden, das heute in gnadenloser Zeit bitter notwendig ist. Die Barmherzigkeit Gottes spielt im Ersten Testament eine besondere Rolle. Sie ist die Mutter des Lebens, die das Schutzbedürftige in ihren Schoß aufnimmt, die neues Leben nährt und ihm Raum eröffnet. Die erste Bauphase begann im Frühjahr 2004 mit dieser Mitte und dem Lebenskreuz, um die sich die Wege des Labyrinthes bewegen.
Die Seele spricht zu Gott:
„Deine Barmherzigkeit ist die Zuversicht meiner Seele in einzigartiger Weise.“ (Mechthild von Magdeburg, FLG I, 33)
„Hebräisch racham bedeutet ,sich erbarmen', rachamim bezeichnet das ,Mitgefühl' oder ,Mitleid'. In allen diesen Wörtern steckt ein noch einfacheres, ursprünglicheres, nämlich rächäm, das Wort für den weiblichen Schoß, den Mutterschoß oder die Gebärmutter." (vgl. Schroer / Staubli 1998, 79) Das Wortfeld von racham umfasst sich erbarmen, lieben, Zärtlichkeit, Zuwendung. Aber nicht nur im Hebräischen, sondern auch im Mittelhochdeutschen sind das göttliche Erbarmen und der Mutterleib sprachlich miteinander verbunden. Das mittelhochdeutsche Wort „barm" bedeutet „Schoß". Wer im Spätmittelalter das Wort „Barmherzigkeit" oder „Erbarmen" hört, hat den Mutterleib als Bildspender vor Augen. Das Erbarmen, die Liebe Gottes ist der Ort, wo neues Leben wachsen kann, wo ihm Raum geschaffen wird und Nahrung zukommt. Die Metapher hierfür ist der Schoß der Frau, die Gebärmutter, die sich weitet für das noch unscheinbare, schutzbedürftige Leben, das in ihr wachsen will. Sie gibt dem neuen Leben Nahrung und alle Zuwendung, die es zur Entwicklung braucht.
Zu Mechthild von Magdeburg spricht die Stimme Gottes:
„Wenn Menschen in demütiger Furcht inständig meine Barmherzigkeit suchen, dann gehen ihnen die guten Werke nicht verloren; und die Bitterkeit ihres Herzens würde zunichte, und sie würden zu sich selber kommen. Denn wer meine Barmherzigkeit sucht, kann Finsternis nicht ertragen. Alle, die sie suchen und stets anrufen, die überwinden ihr Herzeleid. Sie tröstet die Betrübten, sie heilt die Wunden, sie erfreut alle, die zu ihr kommen, sie hat mir große Macht genommen.“ (Mechthild von Magdeburg: FLG, VII, 62 )
Indem das Labyrinth in Helfta an die göttliche Barmherzigkeit erinnert, wird es zu einem besonderen Ort der Spiritualität von Frauen. Es macht die Verbundenheit von Leib und Seele, Spiritualität und Alltag handgreiflich und erfahrbar. Außerdem eröffnet es einen Ort, an dem Gedanken der Mystikerinnen Schritt für Schritt auf den verschlungenen Wegen zur Mitte meditiert werden können. Zu diesem Zweck werden in Helfta Meditationskärtchen mit Zitaten aus dem Werk der Mystikerinnen angeboten. Die Mystik von damals erhält Raum und Zeit, um auf den bewegten Lebenswegen heute zu sprechen.